8.12.2023

Wie würden Alpen ohne Alpwirtschaft aussehen?

Alpines Grünland über der Waldgrenze wird seit der Frühzeit der menschlichen Besiedlung als Sommerweide für Schafe und später für Rinder und Ziegen genutzt. Schon vor 8000 Jahren wurden bei uns Schafe gehalten und über grosse Distanzen zur Weide getrieben.

Natürlicherweise würden Alpweiden von Steinböcken, Gämsen und Hirschen genutzt. Ohne menschliche Jagd wäre die Dichte jener Tiere in den Alpen viel grösser als heute. Als Konkurrenten des Weideviehs wurden die wilden Weidetiere bis vor kurzem intensiv bejagt. In Europa haben wir nirgends die Möglichkeit, die Entwicklung von alpiner Vegetation ohne Einfluss des Menschen anzuschauen.

Die heutigen Alpen werden fast durchwegs bis an die Grenze der Ertragsfähigkeit genutzt. Wenn diese Nutzung zurückgefahren wird, entsteht keine natürliche Vegetation, sondern eine Sukzession unter Ausschluss von Weidetieren und basierend auf der vorhandenen, auf intensive Beweidung ausgerichteten Vegetation. Das Ergebnis ist dann erst mal nicht eine Zunahme der Biodiversität, sondern eher die Ausbreitung weniger Pflanzenarten, bis zur natürlichen Waldgrenze vor allem von Gehölzen.

Sukzession am Andengletscher

Inspirierende Ergebnisse bietet ein Experiment in den Anden, wo Lamas in natürliches Gletschervorland ausgesetzt wurden. Dank ihrer Präsenz hat sich in kurzer Zeit eine fruchtbare und variable Vegetationsdecke entwickelt. Wenn wir die Resultate auf die nacheiszeitliche Vegetationsentwicklung übertragen, lässt sich die rasche Ausbreitung von Pflanzen des Offenlandes gut erklären.

Auch wenn die Bedingungen in der Schweiz wesentlich anders sind, dürfen wir davon ausgehen, dass Steinböcke, Gämsen und Hirsche im natürlichen Wechselspiel mit Grossraubtieren keine Entwicklung geschlossener Wälder in den Alpen zugelassen hätten. Unterschiedlich intensive naturgemässe Beweidung hätte vermutlich zu artenreichen, variablen und weitgehend offenen Landschaften geführt.

Mit der heute betriebenen Alpwirtschaft hat das wenig bis nichts zu tun. Kuhwege auf alpinen Hanglagen sind ein untrügliches Zeichen der Übernutzung. Und grossflächige Kurzgrasrasen auf verdichtetem Boden, wie sie auf Schafalpen entstehen, haben wenig mit artenreicher alpiner Vegetation zu tun. Gerade solche Bewirtschaftung wird aber mit Steuergeldern unter dem Vorwand der Biodiversitätsförderung üppig subventioniert.

Wenn wir uns die Vegetation und die Artenvielfalt in alpinen Regionen ohne regelmässige Beweidung mit Vieh vorstellen, müssen wir zuerst die Frage stellen, welche Wildtierdichte wir stattdessen zulassen. Zahlreiche Experimente in verschiedensten alpinen Landschaften haben die anthropogene Beweidung ausgeschlossen und die anschliessende Vegetationsentwicklung beobachtet – mit dem wenig überraschenden Ergebnis, dass ein völliger Verzicht auf Beweidung nicht zu einer artenreichen und stabilen Vegetationsentwicklung führt und dass eine differenzierte und zurückhaltende Beweidung für die Artenvielfalt förderlich ist.

Kaum je wurde eine naturgemässe Beweidung durch heimische Herbivoren in Betracht gezogen oder gar verglichen. Zu einer natürlichen Vegetationsentwicklung gehört eine Beweidung durch Herbivoren, welche die Evolution der Pflanzen über Jahrmillionen prägten, untrennbar dazu. Es wäre spannend, einmal eine vergleichende Studie mit langjähriger Beweidung durch Weidevieh und naturgemässer Herbivorie zu lesen.

Zum Weiterlesen:

  • Erschbamer B et al. 2009: Auswirkungen der Beweidung in zentralalpinen Hochlagen. – Der Alm- und Bergbauer 10: 13-15.
  • Lu X. et al. 2017: Effects of grazing on ecosystem structure and function of alpine grasslands in Qinghai–Tibetan Plateau: a synthesis. – Ecosphere 8(1): 16 S.
  • Zimmer A. et al. 2023: Llamas (Llama glama) enhance proglacial ecosystem development in Cordillera Blanca, Peru. – Scientific Reports 13: 15936. https://doi.org/10.1038/s41598-023-41458-x
  • www.pronatura.ch/de/2019/lasst-uns-ueber-schafe-statt-woelfe-reden