1.08.2023

Wald ohne Wild ist naturwidrig

Seit der letzten Eiszeit wurden grosse Pflanzenfresser in Europa stark bejagt. Seit mindestens 8000 Jahren gibt es kaum noch Gebiete, in denen Wildtiere in natürlicher Dichte vorgekommen sind. Das hat unsere Landschaft, insbesondere die Wälder geprägt.

Natürlicherweise würden bei uns grosse Pflanzenfresser wie Hirsch, Wisent, Elch oder Wildpferd – vermutlich auch Elefanten und Nashörner – zusammen mit Grossraubtieren in ähnlicher Dichte vorkommen wie die Grossherbivoren in afrikanischen Savannen. Grosse geschlossene Wälder wären unter diesen Verhältnissen nicht entstanden. Die biologische Produktivität der Landschaft wäre aber grösser und komplexer als in heutigen Wäldern. Vor dem Hintergrund der Diskussionen um CO2-Speicherung und Bodenfruchtbarkeit kommt naturgemässer Beweidung eine Schlüsselrolle in der Klimavorsorge zu.

Der Begriff Naturwald ist vor diesem Hintergrund irreführend. Dafür wäre die Präsenz von Pflanzenfressern und Raubtieren in relevanter Dichte unentbehrlich. Ein Vergleich verschiedener Landschaften mit natürlicher Tierdichte ergibt zumindest in tieferen Lagen eine naturgemässe Präsenz von 20-50 grossen Pflanzenfressern pro Quadratkilometer. Es ist inspirierend, diese Zahl unter Einbezug von Weidevieh und unseren Hirschpopulationen in unsere Landschaft zu projizieren.

Alle unsere Pflanzen haben sich gemeinsam mit Pflanzenfressern entwickelt. Wenn wir die natürlichen Anpassungen wie auch die Herausforderungen der Klimaveränderungen ernst nehmen, müssen wir Herbivorie in alle unsere Überlegungen zur Landschaftsentwicklung und zum Biodiversitätsschutz einbeziehen.

zum Weiterlesen:

  • Vera, F.W.M. (Hrsg.) (2000): Grazing ecology and forest history. – CABI Publishing, Oxon, 506 S.
  • Bunzel-Drüke M., C. B.hm, P. Finck, G. Kämmer, R. Luick, E. Reisinger, U. Riecken, J. Riedl, M. Scharf & O. Zimball (2009): Wilde Weiden. Praxisleitfaden für Ganzjahresbeweidung in Naturschutz und Landschaftsentwicklung. – ABU Bad Sassendorf, 221 S.
  • Wegmüller F. (2022): Der Abri Unterkobel bei Oberriet. Ein interdisziplinärer Blick auf 8000 Jahre Siedlungs- und Umweltgeschichte im Alpenrheintal. – Archäologie in St.Gallen 3: 393 S.